DER
BRÜCKENEINSTURZ
VON GENOA
Der Brückeneinstürz von Genoa
TEXT HERMANN KOLLINGER
Bis zu 1.000 Lastwagen pro Stunde und mehr als 25,5 Millionen Autos pro Jahr fuhren über das Polcevera-Viadukt in Genua. Während eines Unwetters brach die 1.182 Meter lange Brücke auf insgesamt etwa 250 Metern ein. Mit Tonnen von Betontrümmern stürzten auch an die drei Dutzend Fahrzeuge mehr als 40 Meter in die Tiefe. 43 Menschen starben, ein Heer an Einsatzkräften leistete unglaubliche Arbeit.
» ICH HÖRTE EIN RAUNEN, DANN EINEN KNALL UND DIE BRÜCKE KOLLABIERTE «
Die Schrägseilbrücke wurde zwischen 1962 und 1967 errichtet und zählte zu einem Verkehrsweg von großer Bedeutung, fuhren doch bis zu 70.000 Fahrzeuge täglich darüber! Sie verband den Osten mit dem Westen der Stadt und war auch die Zufahrtsstrecke zum größten Hafen in Italien.
Brücke immer wieder in der Kritik
Nichtsdestotrotz stand das knapp 1,2 km lange Bauwerk in Italien immer wieder in der Kritik. Schon seit den 1970er Jahren gab es Probleme. Außerdem seien die Spannbetonstäbe, die die Tragseile umgeben, aufgrund ihrer schlanken Struktur nur mit geringer Vorspannung ausführbar gewesen. Die Vorspannung übt Druck von beiden Seiten auf den Stab aus und wirkt damit der Zugspannung an dessen Unterseite entgegen. Die andere große Schrägseilbrücke des gleichen Erbauers mit gleichem Prinzip befindet sich in Libyen und wurde bereits 2017 gesperrt.
Und auch die Brücke von Genua hatte große Mängel. Im Februar 2018 traf sich – Reparaturarbeiten waren bereits 2016 vorgenommen worden – eine staatliche Kommission, die die neuerlichen Sanierungsvorschläge der Betreiber beurteilen sollte. Der Autobahnbetreiber gab damals zu, dass die Tragseile eine Tragfähigkeitsreduktion von 10 bis 20 Prozent hatten. Die Angelegenheit wurde jedoch heruntergespielt und immer wieder verzögert.
» 400 FEUERWEHRLEUTE GABEN IHR BESTES «
Bauwerk schwingt und stürzt ein
Ein Augenzeuge berichtet, dass es während eines Unwetters plötzlich zu einem sichtbaren Vibrieren des Brückenbauwerkes gekommen sein soll. Wenig später ist ein lauter Knall zu hören und die Brücke kollabiert. Der westliche Pylon bricht zusammen mit den beiderseitigen Einhängeträgern ein, was einer Länge von 250 Meter entspricht. 30 bis 35 Pkw und drei Lastwagen stürzten in die Tiefe. Ebenso donnern Tausende von Tonnen an Trümmerteilen aus 42 m zu Boden, das Grollen ist noch in mehreren Kilometern Entfernung zu hören.
Bis zu 400 Feuerwehrleute alarmiert
Am Tag des Unglücks berichtet die Feuerwehr von Genua gegen Abend auf deren Webseite, dass mehr als 300 Feuerwehrleute alles Menschenmögliche unternehmen, um in den Trümmerteilen nach Überlebenden zu suchen. Die operativen Abteilungen von Piemont, Lombardei, Toskana, Veneto und Emilia Romagna wurden zudem nach Genua mobilisiert, um vor allem Ausrüstung und Geräte beizustellen und die teilweise sehr gefährliche Arbeit zwischen Betonteilen und Eisenverstrebungen zu unterstützen. Wie nach einem Erdbeben müssen sie sich in den Trümmerbergen unter engsten Bedingungen vorzwängen oder im Seil hängend hochklettern, um die zertrümmerten Autos, die teilweise sogar in der Luft hängend zwischen den Teilen klemmten, zu erreichen. Beim nächsten Report am 15. August wird von der Feuerwehr von etwa 400 Feuerwehrleuten berichtet, die mit 100 eingesetzten Fahrzeugen nach wie vor am Werk sind. Sie werden inzwischen von einem Experten für USAR-Techniker (Urban Search and Rescue) und SAF-Techniker (Speleo Alpino Fluviali) sowie von Suchhunden unterstützt. Lebende gibt es inzwischen nicht mehr zu retten. Es sind nur mehr Tote, die man aus den Trümmern holen kann. 39 sind es inzwischen.
Letzte Bergungen nach vier Tagen
Vier Tage hat es schlussendlich gedauert, bis man die letzten Leichen finden und bergen konnte. 43 Menschen bezahlten schlussendlich den Einsturz mit ihrem Leben – unter den Opfern sind mindestens vier Minderjährige im Alter von acht, neun, zwölf und 13 Jahren. Die Anzahl an abgestürzten Fahrzeugen wird mit 30 bis 35 Autos und drei Lastwagen angegeben. Als Vorsichtsmaßnahme mussten nach dem Einsturz mehr als 600 Menschen ihre Wohnungen in der Umgebung der Brücke auf unbestimmte Zeit verlassen.
»Der Organisation gehören ca. 250 Mitglieder an.. «
»MEHRERE TAUSEND MENSCHEN KAMEN ZUR TRAUERFEIER «
Lkw als Glückssymbol
Ein grün-blauer Lastwagen ist zum Symbol für Glück beim verheerenden Einsturz geworden. Der Fahrer hat die Katastrophe nur knapp überlebt, weil ein Auto ihn zuvor überholt hatte und er verlangsamte. Kurz darauf war es mit den anderen Fahrzeugen plötzlich samt der Fahrbahn weg. Der Mann hielt gerade rechtzeitig an und rannte davon.
Einen weiteren Glücklichen gab es auch in der Prominenz, den 33-jährigen Ex-Profi-Fußballer Davide Capello. „Ich war auf dem Weg nach Genua, ich war auf der Brücke”, erklärte er im Fernsehinterview. „Ich hörte ein Geräusch, dann der Zusammenbruch. Nach 30 Meter blieb das Auto zwischen den Säulen und den Trümmern stecken. Es ist unglaublich, ich habe keinen Kratzer abbekommen! Es ist ein Wunder.”
Applaus für die Feuerwehr
Mehrere tausend Einwohner von Genua kamen übrigens zu der Zeremonie für die Toten. Als die an den Rettungsarbeiten beteiligten Feuerwehrleute kurz vor Beginn der Trauerfeier in die Messehalle kamen, zollte Applaus Respekt und Anerkennung für die Leistungen der Feuerwehr. Jacopo Lucchini war einer der zahlreichen Helfer. Der 20-Jährige war zwischen den Trümmern im Einsatz und suchte nach Überlebenden. „Ich finde gar keine Worte, um zu beschreiben, wie schlimm es da aussah.” Er zeigt auf seine Arme. Gänsehaut. „Da berührt dich der Tod.”
Der Hergang
Im September 2018 wurden erste Auswertungen der Überwachungskameras der Brücke bekannt. Demnach gaben zuerst die südlichen Tragseile am eingestürzten Pylon nach. Das sei wahrscheinlich auch die Quelle des von Ohrenzeugen wahrgenommenen Rumpelns gewesen. Daraufhin stürzten die Fahrbahn-Einhängeträger auf beiden Seiten des Pylons ab, anschließend gaben die nördlichen Tragseile nach und zuletzt stürzte der Pylon ein. Diese Ereignisse geschahen innerhalb weniger Sekunden. Die Staatsanwaltschaft gab ebenfalls im September bekannt, gegen 20 Personen und den Autobahnbetreiber wegen fahrlässiger Tötung und Missachtung von Sicherheitsbestimmungen zu ermitteln.
Neben der menschlichen Tragödie stellt der Einsturz des Viadukts, das lange Zeit als Verkehrsallheilmittel galt und erst gebaut worden ist, als die Häuser darunter alle schon standen, für Genua auch wirtschaftlich ein Debakel dar. Gesprochen wird von einer Ersatzbrücke bis Ende nächsten Jahres, doch an eine neue Brücke in so kurzer Zeit glaubt in Genua so gut wie niemand.